Ich weise gerne auf das neue „Schwarzbuch Wikipedia“ hin [1]. Es ist eine neue Publikation, die der Augsburger Biographieforscher Andreas Mäckler herausgegeben hat. Anstoß dazu war ihm seine eigene Mobbingerfahrung in Wikipedia.
Er hatte dort aufgrund seiner Dissertation einen Artikel platziert und wurde dann von einem offensichtlich unerfahrenen und in der Sache inkompetenten Editor gemobbt; am Ende verbreitete dieser sogar Lügen über ihn, er sei Neonazi, etc. Ein Gerichtsverfahren stellte klar, dass dies Verleumdung war. Das ging in diesem Fall einfach, weil sich der Administrator sogar mit Namen zu erkennen gegeben hatte. Das ist aber eher die Ausnahme.
Durch diese Erfahrung wurde für Andreas Mäckler klar, dass in der Online-Enzyklopädie nicht nur globale Zusammenarbeit herrscht, sondern auch Abgründe lauern. Diesen Abgründen spürt dieser Band nach.
Meine eigene Wikipedia-Erfahrung
Ich selber habe darin meine Geschichte mit dem Master-Studiengang „Kulturwissenschaft – Komplementäre Medizin“ aufgearbeitet, den ich sechs Jahre lang an der Europa Universität Viadrina geleitet habe. Er wurde – im Wesentlichen aufgrund einer konzertierten Mobbingkampagne – von der Fakultät geschlossen als der öffentliche Druck zu gross wurde. Die Kritik verdichtete sich erst auf den Skeptikerblogs, wurde später von einzelnen Journalisten in bestimmten Mainstream-Zeitungen weitergetragen und kristallisierte sich schließlich auch in Wikipedia in Form von tendenziösen Artikeln und Editwars über beteiligte Personen. Die Entscheidung der Fakultät war natürlich komplex und außer der Kampagne spielten sicher noch hochschulpolitische und Profilerwägungen eine Rolle. Aber ich selber habe an dieser Erfahrung viel über die Rolle der neuen Medien in der postmodernen Zeit gelernt und das fasse ich in meinem Beitrag zu diesem Buch zusammen.
Weitere Erfahrungen und Analysen
Ansonsten kommen eine ganze Reihe von anderen Autorinnen und Autoren zu Wort, die in höchst unterschiedlichen Bereichen immer wieder eine ziemlich ähnliche Erfahrung gemacht haben: Sobald jemand mit Meinungen in den Vordergrund treten will, die einem wie auch immer gearteten Mainstream nicht entsprechen, beginnt im anonymen Untergrund der Blogosphäre das Mobbing, das sich dann auch in Wikipedia zeigt. Verschiedene wissenschaftliche Initiativen haben versucht, das zu analysieren. Auch sie sind in dem Band vertreten.
Einfache und klare Sachverhalte?
Wann immer man etwas über einen einigermaßen unstrittigen Sachverhalt lesen will – das Atomgewicht von Sauerstoff, das Datum der Schlacht auf dem Lechfeld, die Lebensdaten von Winston Churchill oder Hegel, das Bruttosozialprodukt der Schweiz – ist man auf Wikipedia relativ gut beraten. Das Problem ist aber: Die Welt besteht nicht nur aus einfach festzustellenden Sachverhalten. Eine solche optimistisch-positive Einstellung hatten zuletzt die Neopositivisten des Wiener Kreises in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die wissenschaftstheoretische und philosophische Debatte seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts hat klargemacht, dass es so etwas wie „einfache und klare“ Sachverhalte nicht gibt.
Wikipedia und das intellektuelle Fossil
Insofern sind die beiden Hauptanker von Wikipedia, der sogenannte „neutral point of view – NPV“ und simple Faktizität ein Konstrukt, genauer gesagt eigentlich ein intellektuelles Fossil. Es eignet sich allenfalls dazu, der Weltanschauung, die immer noch einer solchen Haltung frönt, dem materialistischen Naturalismus, Ausdruck zu verleihen und zur Geltung zu verhelfen. Und genau das passiert auch. Wir haben das vor Zeiten einmal anhand einer Promotionsarbeit analysiert, die Marius Beyersdorff zum Diskurs um den Wikipedia-Artikel zur Homöopathie angefertigt hat [2]. Da kann man sehr schön sehen: Es geht weder um Wahrheit, noch um Klarheit, und schon gar nicht um Fakten, sondern um Ideologie und Macht.
Masse statt Klasse?
Ein Teil des Problems scheint mir persönlich die implizite Meritokratie zu sein, die bei Wikipedia herrscht: Wer viel schreibt und editiert, gewinnt viel Macht. Ziemlich unabhängig von seiner oder ihrer Kompetenz. Das kann dann dazu führen, dass ein junger Schreiberling, der noch nicht einmal einen Hochschulabschluss hat, einem veritablen Professor in die Kandare fährt, ihn beschimpft, dummes Zeug schwätzt und dessen Text in unangemessener Weise editiert.
Auch solche Fälle gibt es genug, und einige davon sind im „Schwarzbuch“ dokumentiert. Denn die Leute, die viel Zeit haben, um sich in Wikipedia zu engagieren, sind nur in Ausnahmefällen diejenigen, die auch die entsprechende Kompetenz haben. Häufig sind es junge Enthusiasten. Manchmal sind es auch hoch kompetente pensionierte Hochschullehrer, wie mein eigener Mentor Prof. Jochen Fahrenberg aus Freiburg, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Psychologiepräsenz in Wikipedia zu verbessern (https://de.wikipedia.org/wiki/Jochen_Fahrenberg).
Aber sehr oft sind es Leute, die keinen ordentlichen Job und daher jede Menge Zeit haben, oder aber eben auch Leute, die von allen möglichen Interessensgruppen dafür bezahlt werden, bestimmte Artikel auf Wikipedia zu patrouillieren, obwohl das ja eigentlich offiziell verboten ist, oder Menschen, die das Gleiche aus weltanschaulichen oder ideellen Gründen tun. Nicht immer ist dabei Sachkenntnis und Interesse am Wohl der Allgemeinheit der entscheidende Grund.
Beitrag zur Medienkompetenz
Das Buch ist allerdings mehr als eine Sammlung dunkler Geschichten. Es klärt im Grunde auch auf über Wirklichkeitskonstruktion unter der Bedingung der Internetgesellschaft und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erziehung zur Medienkompetenz.
Was müsste geschehen? Vermutlich müssten folgende Dinge diskutiert werden:
Wikipedia ist am Zug: Transparenz schaffen
Die Wikimedia-Foundation sollte sich überlegen, ob sie nicht eine Hinterlegung von Klarnamen und Vollprofilen für ihre wichtigsten Aktivisten und Autoren fordert, so dass Fehldarstellungen und Verleumdungen als solche justiziabel geahndet werden können. Dann würde wirklich jeder für die von ihm verursachten Eintragungen haften. Denn im Moment bewegt sich dieses ganze Unternehmen presserechtlich in einem juristischen Niemandsland.
Die Wikimedia-Foundation sollte sich auch überlegen, ob das momentan geltende Meritokratie-Prinzip wirklich ein gutes Kriterium für Macht in der Online-Enzyklopädie ist, oder ob nicht auch sachlich-inhaltliche Kriterien dazukommen sollten.
Auf jeden Fall sollte klargemacht werden, wer genau sich vor allem hinter den Administratorennamen verbirgt, damit der Willkür von dieser Seite her Grenzen gesetzt sind.
Rechtliche Rahmenbedingungen (schaffen)
Der Gesetzgeber sollte sich überlegen, ob die entsprechenden Passagen des Strafgesetzbuches noch zeitgemäß sind in Zeiten der Allmacht digitaler Kanäle. Man hat ja bereits begonnen, die Plattformen der Social Media ein bisschen in die Verantwortung zu nehmen. Das sollte auf Wikipedia ausgedehnt werden. Und zu anonymen Servern, die im Netz Rufmordkampagnen befeuern, ohne dass dafür jemand rechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, sollte zumindest in unserer westlichen Demokratie der Zugang erschwert werden, soweit technisch möglich. Bzw. der Gesetzgeber sollte sich gemeinsam mit Netzexperten überlegen, wie man damit verfahren könnte.
Ich finde, dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion darüber, wie in postmodernen Gesellschaften Wirklichkeit gestaltet und Wahrheit definiert wird. Daher habe ich gerne dazu beigetragen und wünsche ihm viel Verbreitung.
Literatur
- Mäckler, A. (ed.). (2020). Schwarzbuch Wikipedia: Mobbing, Diffamierung und Falschinformation in der Online-Enzyklopädie und was jetzt dagegen getan werden muss. Höhr-Grenzhausen: Zeitgeist Verlag. https://zeitgeist-online.de/buecher/neuerscheinung.html
- Beyersdorff, M. (2011). Wer definiert Wissen? Wissensaushandlungsprozesse bei kontrovers diskutierten Themen in „Wikipedia – Die freie Enzyklopädie“ – Eine Diskursanalyse am Beispiel der Homöopathie. Berlin: Lit-Verlag. http://www.lit-verlag.de/isbn/3-643-11360-3
- Beitragsbild „Wikipedia Invers“ von https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Wikipedia-logo_(inverse).png