Treblinka
Vor zwei Wochen war ich in Nordostpolen auf einer kleinen Konferenz eingeladen, in Łomża, einer Stadt etwa 150 km nordöstlich von Warschau. Eine kleine Gruppe von Linguisten, die den Zusammenhang zwischen Sprache, Umwelt und Natur untersuchen, haben mich zu einem Vortrag über ein holistisches Paradigma in der Wissenschaft eingeladen. Ich nützte die Zeit und nahm mir zwei freie Tage. Einen davon verwendete ich darauf, um nach Treblinka zu fahren. Das ist jener Ort in Nordostpolen, an dem sich eines der drei großen Vernichtungslager der Nazis befand, das am weitesten östlich und nördlich gelegene. Treblinka ist nur etwa 80 km südlich von Łomża. Und so fuhr ich also nach Treblinka.
Treblinka ist gut versteckt und schlecht ausgeschildert. Zunächst kommt man an einen Bahnhof bzw. an die Gedenkstätte des Bahnhofs.
Man sieht im Hintergrund des Bildes die stilisierten Bahnschwellen. Sie symbolisieren das Gleis, das einmal hier durchkam. Alles ist nämlich verschwunden. Dem Erdboden gleichgemacht. Ausradiert aus dem materiellen Gedächtnis der Natur und dem Gesichtsfeld der Nachwelt entzogen. Meinten die Nazis. Meinen viele heute.
Die Nazis haben schon 1943/44 begonnen, alles zu beseitigen, was auf das Lager hinwies. Denn am 2. Juni 1943, also vor ziemlich genau 78 Jahren, begann ein Aufstand der Häftlinge, bei dem sich mehrere hundert bewaffnete Häftlinge den etwa 50 SS-Schergen und etwa 100 ukrainischen Wachhelfern entgegenstellten. Etwa 100 bewaffnete Häftlinge entkamen; mehr als 600 wurden erschossen. Diese entkommenen Häftlinge waren Zeugen, und vor Augenzeugen schienen die Nazis Respekt zu haben: Sie wollten nicht, dass die Gräuel, die sie anrichteten, in der Welt bekannt wurden. Also wurde das Lager aufgelöst, die Gaskammern geschleift und alles unauffällig mit Lupinen übersät. Heute steht dort, wo das Arbeitslager und das Vernichtungslager Treblinka waren, ein schöner Wald.
Den Kuckuck werde ich so schnell nicht vergessen, der laut und ausdauernd rief, als ich mich etwa 2,5 km hinter dem Gelände des Vernichtungslagers an der Hinrichtungsstätte des Arbeitslagers aufhielt und mir die Gräberreihen ansah.
Dort wurden anfangs die gestorbenen Zwangsarbeiter begraben, später auch willkürlich Hingerichtete. Im Unterschied zu den Gräberfeldern des Vernichtungslagers ist offenbar von vielen hier Begrabenen die Identität bekannt. Die Kreuze tragen Namen, Geburtsdaten, Sterbedaten. Die meisten Verstorbenen hier waren 20, 30 Jahre alt, junge Widerstandskämpfer, Angehörige der polnischen Armee, oder solche, die mit den Gesetzen in Konflikt gekommen waren oder ihre Abgaben nicht bezahlt hatten und daher ins Arbeitslager kamen. Dort waren immer ca. 2.000 Zwangsarbeiter zugleich interniert, insgesamt etwa 20.000 über die gesamte Betriebszeit des Lagers. Die Hälfte von ihnen starb an Hunger, Krankheit und Misshandlung oder wurde aus irgendeinem Grund erschossen.
Ich erfuhr aus der historischen Dokumentation vor Ort, dass ich vielleicht sogar das Grab meines Großvaters dort finden könnte. Mein Vater kannte seinen Vater nicht; seine Eltern waren nicht verheiratet. Er wusste nur, dass er ein polnischer Hotelbetreiber war, der im polnischen Widerstand aktiv war und von der Gestapo zu Tode gebracht wurde. Kurz vor seinem Tod begann mein Vater mit der Recherche und ich hatte eigentlich schon lange vor, diese Recherche weiterzuführen. Das werde ich jetzt tun; vielleicht ist auch das Grab meines Großvaters unter den vielen hundert Kreuzen, vielleicht auch nicht. Dann komme ich mit einer Rose und lege sie einfach so ab.
Das Arbeitslager Treblinka wurde von den Nazis bereits 1941 an der Stelle errichtet, an der eine polnische Firma eine Kiesgrube hatte. Die vorhandene Infrastruktur – Bahnhof, Gleise – wurde von Odilo Globocnik, dem SS-Chef des Generalgouvernements [1], der mit der Umsetzung des von Reinhart Heydrich in Auftrag gegebenen Plans zur Auslöschung der Juden beauftragt war, als gute Voraussetzung für die Errichtung eines Vernichtungslagers gesehen. Das wurde dann in etwa 2,5 km Entfernung vom Arbeitslager errichtet, irgendwann 1942, nach der Wannseekonferenz am 20. Januar, auf der die „Endlösung der Judenfrage“, also die Vernichtung der europäischen Juden, beschlossen wurde.
Beide Lager mussten von Archäologen mit modernen Geräten rekonstruiert werden – mit Luftaufnahmen, erddurchdringendem Radar und anderen Methoden – weil eben alles verschwunden und überwuchert war. Die Dokumentation im Museum ist eindrucksvoll. Dort finden sich auch Augenzeugenberichte von einigen Entkommenen, die den Archivaren im Warschauer Ghetto Dokumentationen gaben, Zeichnungen, persönliche Berichte. Dieses sog. „Ringelblum-Archiv“ wurde nach dem Krieg in einem Kassiber gefunden und gilt als wertvolles zeithistorisches Archivdokument. Daher sind wir trotz der Vertuschungsstrategie der SS über das Funktionieren des Lagers relativ gut unterrichtet. Man kennt die Zahl der ankommenden Züge, ungefähr. Ihre Länge, in etwa. Und kann daraus abschätzen, wie viele Menschen in den etwa 11 Monaten des Lagerbetriebs hier umkamen: zwischen 800.000 und 900.000, dazu kommen die etwa 10.000 Toten aus dem Arbeitslager. Die meisten kamen aus Polen, aus dem Warschauer und anderen Ghettos, aber auch aus Griechenland, Bulgarien, Deutschland, Österreich, Ungarn, der Ukraine und anderen Ländern. Während die Massengräber jüdischer Menschen gemäß den jüdischen Gebräuchen bei der archäologischen Untersuchung unangetastet blieben und nur mit Radar lokalisiert wurden, wurden die Massengräber des Arbeitslagers archäologisch untersucht. Man fand sie, mit sehr vielen menschlichen Überresten, hier eine Schuhsohle, da ein Knochen, ein Blechlöffel.
Man muss die „Droga czarna“, die „schwarze Straße“, die von Häftlingen erbaute Verbindungsstraße zwischen Bahnstation Treblinka und Arbeitslager entlang wandern. Früher war sie mit Grabsteinen jüdischer Friedhöfe gepflastert, ein bewusstes Sakrileg. Heute sind es Katzenkopfpflastersteine, viele wohl auch noch aus der Zeit von damals.
Man muss sich das vorstellen: 900.000 Menschen wurden hier ermordet, in 11 Monaten, das sind knapp 3.000 pro Tag und etwa 800 Menschen pro ankommendem Zug, die da systematisch vernichtet wurden. Sie wurden aus den Zügen getrieben. Die jungen Arbeitsfähigen wurden ausgesondert und ins Arbeitslager verbracht, der Rest in Männer und Frauen getrennt und in zwei unterschiedliche „Umkleidehallen“ getrieben. Von dort ging es in einer Gasse, sichtgeschützt durch Hecken, zur Vernichtungskammer, in die sie hineingepfercht wurden. Nackt, dicht an dicht, etwa 400 aufs Mal. Die ukrainischen Wachen schalteten den Diesel ein. Die Abgase wurden eingeleitet und die Menschen starben qualvoll. Hinten wurden sie zunächst in große Gruben geworfen, die von Baggern ausgehoben worden waren. Später, nachdem Himmler das Lager anfangs 1943 einmal besucht hatte, experimentierte man mit großen Freiluftverbrennungsanlagen, Rosten aus Eisenbahnschienen. Das gelang offenbar schlecht. Die verkohlten Reste mischte man ebenfalls mit Sand und vergrub sie in Massengräbern. An der Gedenkstätte versucht man, die Brandstätte mit einer eigenen Grube zu symbolisieren, in die geschmolzene Schlacken von Glas und anderen Stoffen eingebracht wurden. Sie repräsentieren die verkohlten Leiber (Abb. 3)
Heute steht an der Stelle, an der man archäologisch die Gaskammer verortet, ein großes Mahnmal, drumherum, in einem Dreiviertelkreis, Stelen als stilisierter jüdischer Friedhof.
Es ist mir nicht gelungen, die Monstrosität im Bild festzuhalten. Vielleicht ist das gut so. Vielleicht kann man sie nur im Gedenken behalten. Ich habe versucht, die Zahl der Stelen abzuschätzen. Vielleicht sind es 10.000, vielleicht etwas mehr. Aber für alle 800.000 bis 900.000 Todesopfer hätte man wahrscheinlich mehrere Hektar Wald roden müssen, um dort alle Stelen unterzubringen.
In der Hitze des Mittags warf das Mahnmal einen scharfen, fast schmerzhaften Schlagschatten (Abb. 5). Ich setzte mich in die Mitte des Stelenfeldes, in den Schatten einer Weide und meditierte eine halbe Stunde.
Schatten der Vergangenheit
Der Schatten der Vergangenheit reicht bis heute. Die Nazis dachten, sie könnten eine geistige Tradition auslöschen, indem sie die materiellen Träger dieser Tradition vernichten, die Leiber töten, die Kulturgüter schänden, die Thorarollen verbrennen. Sie waren ganz und gar mit dem Materiellen identifiziert in ihrem Blut-und-Boden Wahn. Der Nationalsozialismus war vermutlich die erste veritable materialistische Religion dieser Erde und in der Geschichte der Menschheit: auf die Genetik fixiert, auf Äußerlichkeiten, auf Macht, Fläche, Zahl, Einfluss. Ihre Farbe war die Farbe der Kacke. Ihr Symbol das pervertierte Sonnenrad – ursprünglich ein altes asiatisches Glückssymbol. Himmler versuchte, in der SS ein düsteres Pendant der mittelalterlichen Orden zu etablieren. Der „Führer“ war ein narzisstischer Kobold, der sich zum Oberpriester einer materialistisch-absurden Religion ernannte und der – wir sollten das nie vergessen – mit der Mehrheit der Wählerstimmen an die Macht kam. Als Hitler schließlich im Artilleriefeuer der Roten Armee seine vermeintliche Mission scheitern sah und sich das Leben nahm, dachten viele der Spuk sei vorbei.
Ist er nicht. Das „Nie wieder“, das auch auf dem Stelenfriedhof von Treblinka mahnt (Abb. 5), ist zwar ein zentraler Wunsch, aber ich bin mir nicht so sicher, ob wir uns ausreichend darüber verständigt haben, was nötig ist, damit es „nie wieder“ solche Monstrositäten geben kann.
Einer der Schatten von Treblinka ist der kolossale Irrglaube einer materialistischen Pseudo-Religion: dass die materiellen Träger von irgendwas das Einzige wären, was zählt. Die Nazis meinten, wenn sie das Materielle beseitigen würden, wäre alles andere damit erledigt, wäre die ihnen so verhasste jüdische Kultur, die jüdische Religion, die jüdische Tradition, das jüdische Denken ausgerottet. Wie wir heute wissen, ist ihnen das trotz aller Gräueltaten nicht gelungen. Gott sei Dank. In vielen Gegenden Mitteleuropas ist zwar in der Tat jüdisches Leben so gut wie verschwunden, von den etwa 20 % jüdischer Bevölkerung in Polen, die dort vor dem Krieg gelebt hat, ist kaum mehr irgendjemand übrig. Immerhin gibt es nun den Staat Israel.
Ideell-geistige Parallelen
Um hier sehr klar zu sein: Unser politisches System ist vom nationalsozialistischen Regime so weit entfernt wie die attische Demokratie von der Tyrannei antiker Alleinherrscher, da besteht kein Zweifel. Wenn ich also Parallelen ziehe zwischen unserer Kultur / unserem Denken und dem Nationalsozialismus, dann keinesfalls politisch, sondern ideell-geistig. Denn unsere Kultur hat es nicht geschafft, sich von der Fixierung auf das materielle Substrat von … irgendetwas zu lösen, sei es das Substrat von Krankheit, das Substrat von Bewusstsein, das Substrat von Glück, das Substrat von…
Die materialistische Pseudoreligion der Postmoderne ist einer der vielen langen Schatten von Treblinka. Wir glauben, wenn wir einen Erreger bekämpfen und vernichten, sei die Krankheit weg. Wir glauben, wenn wir genug Bruttosozialprodukt erwirtschaften, sei die Armut bekämpft. Wir glauben, wenn das Gehirn stirbt und der Mensch tot ist, ist er ganz verschwunden. Auch umgekehrt denken wir so: Wir glauben, wenn wir genug Besitz vorweisen können, ein dickes Auto, feinen Urlaub, Segelyacht, dann sind wir wer. Wir meinen, wenn wir das Funktionieren des Gehirns verstanden haben, kennen wir den menschlichen Geist und die menschliche Seele.
Solange die Sonne scheint, wirft alles Schatten. Der Schatten von Treblinka wird immer länger werden, und zwar so lange, bis wir uns auf die geistig-spirituellen Wurzeln nicht nur unser selbst, sondern der Welt besinnen. Wie das geht, weiß ich nicht genau zu sagen. Denn die Schatten von Treblinka und Auschwitz haben auch die Religion verdunkelt und das Licht Gottes in den Abgrund gezogen. Nicht umsonst spricht Rüdiger Sünner von der „Schwarzen Sonne“ im Zusammenhang mit den dunklen Aspekten der nationalsozialistischen Pseudospiritualität [2]. Wir werden alles neu erfinden müssen. Uns selbst. Eine menschlichere Gesellschaft. Eine humanere Medizin. Und eine spiritualisierte Religion. Eine, die aus innerer Erfahrung gespeist ist, nicht aus Diktaten und dürren Strukturen. Wie sie aussieht, werden vielleicht erst unsere Enkel und Urenkel wissen, falls es uns dann als Menschen noch gibt. Der Weg dorthin, aus dem Schatten heraus, ist für mich relativ klar. Ich habe ihn verschiedentlich beschrieben [3] und weise immer wieder darauf hin: Wir benötigen eine Kultur des Bewusstseins. Dies ist letztlich eine einfache, treue, stetige, täglich wiederholte Praxis der Sammlung, damit unser inneres Wesen für uns selbst fühlbar und hörbar wird. Es müssen vielleicht nicht alle das praktizieren, aber möglichst viele.
In der nationalsozialistischen Ideologie hat die Mehrheit eines ganzen Volkes die Sehnsucht nach dem Kontakt mit diesem ihrem inneren Wesen auf einen Führer, einen äußerlich sicht- und greifbaren vermeintlichen Retter projiziert. Die Folgen kennen wir. Die Rettung kommt selten von außen. Sie kommt fast immer von innen. Und sehr oft zeigt sich Außen, was Innen ist. Carl Gustav Jung nannte das „Synchronizität“. [4]
Synchronizität
Als ich auf dem Weg zurück vom Arbeitslager am Vernichtungslager vorbei zum Parkplatz wanderte, fing ein gewaltiges Gewitter an. Es tropfte anfangs mit großen, fetten Tropfen, aber nur sporadisch. Der trockene Sand schluckte sie gierig. Ich ging rasch zum Auto zurück, das kurz vor der Ausfahrt vom Parkplatz stand, ganz allein. Die wenigen anderen Besucher waren weg. Als ich die Tür zum Auto zuschlug, ergoss sich so viel Wasser aufs Mal, dass ich im Freien innerhalb einer Sekunde völlig durchnässt worden wäre. Ich saß noch im Auto und sann drüber nach, ob ich das Gewitter wohl abwarten und danach nochmals eine kleine Wanderung unternehmen sollte. In dem Moment fiel keine 20 Meter vor mir eine ziemlich große, vielleicht 15 m hohe Birke um wie ein Schlagbaum, quer über die Einfahrt zum Museum. Ich fällte meine Entscheidung rasch und fuhr schleunigst davon, hinaus auf die Straße, an der die Bäume weit genug entfernt standen. Nach 20 Kilometern war ich aus der Gewitterzone draußen und fuhr am gemächlich fließenden, mächtigen Bug entlang, an dessen Ufern auch Treblinka liegt.
Den Schatten Treblinkas müssen wir uns entziehen. Bald, noch ehe es zu spät ist.
Quellen und Literatur
- Sands P. The Ratline: Love, Lies, and Justice on the Trail of a Nazi Fugitive. London: Weidenfeld and Nicholson; 2020.
- Sünner R. Schwarze Sonne: Die Macht der Mythen und ihr Missbrauch in Nationalsozialismus und rechter Esoterik. Klein Jasedow: Drachen Verlag; 2009.
- Walach H. Spiritualität: Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen. Klein Jasedow: Drachen Verlag; 2015 (orig. 2011).
- Jung CG. Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge. In: Jung CG, Pauli W, editors. Naturerklärung und Psyche. Zürich: Rascher; 1952. p. 1-107.