Eine These, die ich einmal entwickelt habe, als ich mir vor Jahren die Berichterstattung über die konventionelle und die komplementäre Medizin in den Printmedien in England angesehen habe, lautet: Etwa 10-14 Tage, nachdem eine Hiobsbotschaft über die konventionelle Medizin, vor allem die Pharmakologie, hereingebrochen ist, geht das CAM-Bashing wieder los.
Vor allem Print-Medien, aber auch andere, schlagen dann ein auf die Homöopathie, die Akupunktur, die Phytotherapie oder was sonst grad so zur Verfügung steht. [1]
Diese These können wir jetzt einmal live testen. Denn gerade ist eine schlechte Nachricht für die konventionelle Pharmakologie angekommen, die zu einem Rückgang der Verschreibungen führen wird und muß. Die Botschaft lautet: Die leitliniengemäße Verschreibung von Bluthochdruck-Medikation für Patienten, die einen grenzwertig hohen Blutdruck (zwischen 140 und 159 systolisch und 90 und 99 diastolisch) haben und sonst keine weiteren Risikofaktoren, ist nicht nur nicht nützlich, sondern gefährlich. Das zeigt eine Studie einer englischen Forschungsgruppe, die in der letzten Ausgabe von JAMA Internal Medicine veröffentlicht wurde. [2].
Etwa 10-14 Tage, nachdem eine Hiobsbotschaft über die konventionelle Medizin, vor allem die Pharmakologie, hereingebrochen ist, geht das CAM-Bashing wieder los.
Die Arbeit ging von der Frage aus, ob die von den Leitlinien der American Heart Association und anderen Organisationen vorgegebene Medikation von grenzwertigem Bluthochdruck wirklich gerechtfertigt sei. Denn die Werte, ab denen medikamentös eingegriffen werden sollte, haben sich in der letzten Zeit stetig nach unten verändert. Grundlage dafür waren meistens größere randomisierte Studien an Patienten, die aber meistens noch weitere Risikofaktoren wie z.B. Diabetes hatten. Langfristige Beobachtungsstudien fehlten allerdings.
Deswegen haben sich also die Autoren dieser Arbeit genau jene Patientengruppe vorgenommen, für die häufig leitliniengemäß Bluthochdruckmedikation verschrieben wird: Grenzwerthypertoniker ohne irgendwelche weiteren Risikofaktoren. Die Autoren haben dazu knapp 40.000 mit einander vergleichbare Patienten mit grenzwertigem Bluthochdruck, die über die letzten Jahre entweder eine Medikation erhalten hatten oder nicht, retrospektiv aus der großen englischen Datenbank des NHS herausgesucht. Der Vergleich fand über ein aufwändiges statistisches Verfahren statt, ein sog. Propensity-Score Matching. Dabei erzeugt man über ein statistisches Regressionsverfahren einen Vergleichbarkeitswert, der angibt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass man aufgrund von bestimmten Merkmalen in der einen oder anderen Gruppe landet; in dem Fall in der Gruppe mit und ohne Medikation. Auf diese Art und Weise kann man auch ohne eine Zufallszuweisung relativ gut eine Vergleichbarkeit der Gruppen herstellen.
Dann errrechneten die Forscher, wie hoch die Mortalität in den beiden Gruppen war, also die Anzahl der Todesfälle. In der Gruppe ohne Bluthochdruckmedikation war sie etwas niedriger, nämlich 4.08 %, in der Gruppe mit Bluthochdruckmedikation war sie höher, nämlich 4.49 %. Dieser kleine Unterschied von 0.41 % ist zwar winzig, aber signifikant von Null verschieden. Außerdem fallen die sekundären Maße deutlich aus: Menschen, die eine Bluthochdruckmedikation erhalten, haben deutlich und signifikant mehr Ohnmachtsanfälle (HR = 1.28), niedrigen Blutdruck (HR = 1.69), Störungen des Elektrolythaushaltes (HR = 1.79) und akute Nierenprobleme (HR = 1.38). Das Expositionsmaß, die sog. „hazard ratio“ (Verhältnis der Risikoexposition) sagt dabei aus, um wieviel Prozent höher die Gefahr in der exponierten Gruppe, also hier der Medikationsgruppe ist.
Eine HR von 1.69 für erniedrigten Blutdruck bedeutet: Wer über Jahre wegen Grenzwerthypertonus eine Blutdruckmedikation eingenommen hat, hat eine 69% höhere Chance, einen zu niedrigen Blutdruck zu entwickeln als jemand, der nichts eingenommen hat. Aufgrund der großen Patientenzahl und der langen Beobachtungszeit von 15 Jahren sind die Effekte auch deutlich und signifikant. Die Effekte sind allerdings oft schon nach 5 Jahren sichtbar. Die sog. „number needed to harm“, also die Effektgröße liegt je nach Mass zwischen 35 und 580. Das bedeutet: Wenn 35 Leute diese Medikation nehmen, dann wird nach 10 Jahren eine Person eine Herzrhythmusstörung entwickeln, oder wenn 580 Leute die Medikation nehmen, dann wird nach 5 Jahre eine Person eine Störung des Elektrolythaushalts entwickeln. Für die anderen Zeiträume und Störungen liegen die Werte zwischen diesen Werten, sind also durchaus ernst zu nehmen.
Die leitliniengemäße Verschreibung von Bluthochdruck-Medikation für Patienten, die einen grenzwertig hohen Blutdruck (zwischen 140 und 159 systolisch und 90 und 99 diastolisch) haben und sonst keine weiteren Risikofaktoren, ist nicht nur nicht nützlich, sondern gefährlich.
Was bedeutet dies? Die Leitlinien sind offenkundig falsch und setzen zu früh mit einer Medikation ein. Wahrscheinlich werden Millionen von Patienten überbehandelt oder zu Patienten gemacht, obwohl sie keine sind – und gehen damit Gefahren ein. Die weniger gefährlichen, aber dennoch unangenehmen Nebenwirkungen sind dabei übrigens nicht berücksichtigt, weil sie in den großen Patientendatenbanken gar nicht adäquat erfasst sind: Potenzstörungen und Probleme in der Beziehung, Lustlosigkeit und Antriebsarmut, um nur einige zu nennen. Aus meiner Sicht ist das auch die Konsequenz einer übermedikalisierten Praxis und einer einäugigen Sicht auf pharmakologische Interventionen.
Anstatt zu überlegen, welche Lebensstilfaktoren eine Rolle spielen – meistens sind es Belastung, Stress und Druck, Schlafmangel und ungünstige Ernährung, die zu erhöhtem Blutdruck führen – greift man zum Rezeptblock. Das ist nicht nur ein Problem der Ärzte, sondern vor allem der Patienten und des öffentlichen Bewusstseins.
Wenn meine Hypothese zutrifft, werden wir in der nächsten Zeit vermehrt Propaganda zu Gesicht bekommen, die sich gegen die nicht-medikamentösen Verfahren der Stressbewältigung richtet: gegen Yoga, Achtsamkeit, Meditation und andere Optionen der Lebensstilveränderung.
Ich wäre froh, wenn meine Hypothese diesmal falsch wäre und sich stattdessen möglichst rasch und lautlos die Leitlinien und das Verhalten der Ärzte und Patienten ändern würden.
Quellen und Literatur
[1a] Walach, H. (2009). The campaign against CAM – a reason to be proud. Journal of Holistic Health Care, 6(1), 8-13.
[1b] Walach, H. (2009). The campaign against CAM and the notion of „evidence-based“. Journal of Alternative & Complementary Medicine, 10, 1139-1142.
[2] Sheppard, J. P., Stevens, S., Stevens, R., Martin, U., Mant, J., Hobbs, F. D. R., et al. (2018). Benefits and harms of antihypertensive treatment in low-risk patients with mild hypertension. JAMA Internal Medicine, 178(12), 1626-1634.