Ich habe mich in der letzten Zeit ein bisschen mit theoretischen Fragen beschäftigt. Dazu gibt es ein neues Editorial von mir („We need a new narrative: Agents instead of patients”), das frei verfügbar ist [1] und einen ausführlicheren Artikel, den ich zusammen mit dem britischen Medizinphilosophen Michael Loughlin geschrieben habe und der ebenfalls frei verfügbar ist [2]. Wen die Argumentation interessiert, der findet ausführlichere Gedanken in diesen Texten.
Kurz zusammengefasst handelt es sich um folgendes Argument:
Ohne Hintergrundnarrative kommen wir nicht aus. Auch wenn wir uns in der postmodernen Zeit wähnen, die ja durch den Zusammenbruch der großen Narrative, vor allem des christlichen Erlösungsnarrativs gekennzeichnet ist, haben wir dennoch unsere Geschichten und unsere impliziten Annahmen über die Welt. Meistens werden diese Narrative als Geschichten über den Fortschritt, die tollen Errungenschaften unserer Zeit usw. transportiert.
In der Medizin ist das dominante Narrativ das auf Descartes und Kollegen zurückgehende Narrativ vom menschlichen Organismus als einer komplexen biologischen Maschine, die wir zwar noch nicht ganz, aber bald, verstanden haben, und dann werden wir alles reparieren können, was kaputt geht.
Regelmässige Leser meines Blogs werden gemerkt haben, dass ich diesem Narrativ sehr skeptisch gegenüber stehe. Ich halte es für eine gelungene Abstraktion, wenn es um Notfallinterventionen und akute Probleme geht. Ich halte es für geradezu verheerend, wenn es um alle anderen 70-80% der Probleme geht, wegen derer ein Mensch heutzutage einen Arzt aufsucht. Meine kleine, unregelmässige Serie „bröckelnde Mythen“ handelt von der mangelnden Tragfähigkeit dieses Maschinen-Modells.
Denn die Maschinenmetapher ist nur dann nützlich, wenn der Mensch wirklich als Patient, also als Leidender, kommt, weil er sich selber nicht mehr helfen kann und wenn tatsächlich ein akutes Problem vorliegt, ein Unfall, eine akute Infektion, ein Schlaganfall, ein Herzinfarkt, derlei Dinge. Dann ist der Mensch auch ein passiver. Patient kommt vom Lateinischen „pati – leiden“, von dem sich „patiens – leidend, geduldig“ ableitet und auch das grammatikalische „Passiv“, die Form des sprachlichen Erleidens: „ich werde behandelt“, oder – grammatikalisch falsch aber sprachlich witzig – „ich werde geholfen“. Der Patient ist der medizinisch Passive, dem geholfen werden muss, weil er oder sie sich nicht (mehr) selber helfen kann.
In der Tat sind aber die meisten Probleme von uns Modernen oder Postmodernen dergestalt, dass sie gar nicht erst auftreten würden, wenn wir nicht passiv, sondern aktiv wären. Wenn wir nämlich Verantwortung für unser Leben und unsere Gesundheit übernehmen würden. Achtung: Verantwortung heisst nicht Schuld. Wir können Verantwortung für uns und unsere Gesundheit übernehmen, auch wenn wir nicht an unserer Krankheit „schuld“ sind, weil wir etwa nichts für unsere Gene, die Umweltgifte oder andere Umstände können.
Aber wir können mit unserem Lebensstil, mit unserer Handlungsweise Einfluss darauf nehmen, wie sie sich ausprägen und ob sie sich zeigen. Davon handelt dieser von uns eingeforderte Umschwung im Denken. Es geht nicht um ein Entweder-oder, die große Denkfalle des abendländischen Denkens. Es geht um ein Sowohl-als-auch: Manchmal werden wir klarerweise Patienten sein und dann ist es auch medizinisch sinnvoll, ein Maschinenmodell zugrunde zu legen.
Immer öfter sollten wir uns als Aktive, als Agenten fühlen. Agent kommt vom Lateinischen „agere – handeln, aktiv sein“ und „agens“ oder „Agent“ ist das Partizip Präsens: der oder das Handelnde, Aktive.
Dahinter steckt implizit natürlich die Idee, dass wir in Grenzen frei handeln können, Entscheidungen treffen können, unseren Lebensstil beeinflussen können. Leibniz hat einmal gesagt: „Unsere Freiheit besteht darin, uns gute Gewohnheiten zuzulegen.“ Um das geht es mir hier. Dass wir Elemente in unseren Lebensstil integrieren, die förderlich für uns, unsere Gesundheit und unser Wohlsein sind. Und dass die Medizin immer mehr weg kommt vom Behandlungsmodus für Patienten zum Beratungsmodus für Agenten, für freie, handelnde Subjekte (die oftmals auch besser wissen, als die Spezialisten, was ihnen wirklich gut tut, wenn man sie denn mal fragen würde).
Wie wir leben, was wir essen (oder nicht), was wir trinken (oder nicht), wie wir unsere Freizeit gestalten, welche Gewohnheiten zur Entspannung wir uns zulegen, wie wir unsere soziale Mitwelt gestalten, ob und wie wir uns von der medialen Überstimulation beherrschen lassen oder nicht, all das und noch vieles mehr macht unser Agent-Sein, unsere Verantwortung aus und nimmt Einfluss auf unsere Gesundheit.
Denn die meisten Krankheiten, unter denen postmoderne Menschen leiden, inklusive des Gefühls der Sinnlosigkeit, sind keine Krankheiten, die man mit dem Maschinenmodell gut behandeln kann, sondern sind lebensstilbedingt und daher nur so zu behandeln, dass Patienten aufhören sich als Patienten zu begreifen. Als Agenten, als Handelnde, dürfen sie die Verantwortung übernehmen: für sich, für ihre Gesundheit, für ihre Welt.
Mehr dazu habe ich auch in meinem kürzlich erschienen Buch „Heilung kommt von innen“ geschrieben. [3]
Literatur und Quellen
[1] Walach, H. (2018). We Need a New Narrative: Agents instead of Patients. Complementary Medicine Research, 25, 364-366. https://www.karger.com/Article/FullText/495129
[2] Walach, H., & Loughlin, M. (2018). Patients and agents – Or why we need a different narrative: A philosophical analysis. Philosophy, Ethics and Humanities in Medicine, 13(13). https://peh-med.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13010-018-0068-x
[3] Walach, H. (2018). Heilung kommt von innen: Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen. München: Knaur Verlag. https://www.droemer-knaur.de/buch/9596765/heilung-kommt-von-innen