Die Ureinwohner der Prärien Nordamerikas haben sich ursprünglich von Großwild und Büffel ernährt. Sie jagten zu Fuß, bevor das Pferd um 1500 durch die Spanier nach Amerika kam [1, 2]. Sie machten sich dabei eine Eigenschaft der Büffel zunutze: Büffel sind Herdentiere. Sie folgen dem Leittier. Wenn das einmal losläuft, rennen alle hinterher. Die Indianer, „First Nations“, hatten spezielle Plätze, wo die Prärie plötzlich über eine Klippe abbricht. Dort bauten sie zaunartige Hindernisse auf, die wie ein Trichter von der Prärie aus auf die Klippe zuliefen. Dann versetzten sie die Büffel in Panik und trieben sie auf die Hindernisse zu. Dem Leittier stürmten alle hintendrein. Das rannte los, konnte nicht mehr rechtzeitig stehenbleiben und stürzte über die Klippe, und alle stürzten hinterher ins Verderben. Unten warteten die Jäger und konnten das Fleisch der zu Tode gestürzten Büffel zerlegen, und fertig war die Jagd. Als die Indianer Pferde hatten, wendeten sie das gleiche Prinzip an, ohne Zäune, dafür mit Pferden. In Montana gibt es einen Naturpark namens „Buffalo Jump“, an dem man viele archäologische Überreste dieser Jagdtechnik fand.
Das was sonst für die Büffel sehr praktisch war – sie verließen sich auf die Erfahrung der Leittiere und auf die Signale der Wächter – wurde ihnen nun zum Verhängnis.
Political Correctness
Wir Menschen sind auch Herdentiere, auch wenn wir uns sehr viel auf unsere Individualität einbilden. In der Regel rennen wir irgendwelchen Leithammeln hinterher, die den Takt oder den Ton angeben. Wir nennen das dann „Mode“, oder, im politischen Kontext „Political Correctness“. Eine von uns als relevant angesehene Gruppe oder einige bestimmende „Influencer“ geben vor, was richtig ist, und alle anderen machen es nach. In meiner Jugend war die Mode durch die Beatles in den 60er Jahren vorgegeben, und plötzlich hatten alle Jungs lange Haare. Ja, auch ich hatte damals fast schulterlanges Haar, als ich noch welches hatte. Man will eben dazugehören.
Heute sind die politischen Moden andere als früher. Sie werden durch Hashtags und Twitter-Follower bestimmt, in Talkrunden ausgeschnapst oder von hippen, jungen, manchmal auch alten, aber auf jeden Fall als einflussreich, mächtig und vertrauenswürdig eingeschätzten Politikern vorgegeben.
Und das Befolgen dieser Vorgaben und sprachliche Nachahmen nenne ich „Political Correctness“. Dafür gibt es sicherlich viele andere Definitionen. Aber ich lade dazu ein, Political Correctness mal unter diesem Aspekt zu betrachten. Klarerweise unterscheiden sich Mode und Political Correctness auch: Mode wird meistens von einigen Vormachern definiert. Political Correctness stammt idealerweise aus einem komplexen gesellschaftlichen Diskursprozess, an dessen Ende eine Einigung auf das steht, was man allgemein für richtig hält. Daraus wird dann ein moralischer Imperativ: dies ist nicht nur richtig, es muss auch für alle als verbindlich erklärt werden. Wenn der Diskursprozess gründlich, der Konsens allgemein, die Sache unstrittig ist, ist auch nichts dagegen einzuwenden. Wenn aber der Diskursprozess abgebrochen, manipuliert oder interessengeleitet ist, dann wird Political Correctness zur Denkfalle.
Political Correctness hat natürlich Vorteile. Man braucht sich keine Gedanken mehr machen, ob die Richtung stimmt. Der Leitbüffel hat es ja vorgegeben, alle rennen hinterdrein. Wenn keine „hinterlistigen Indianer“ dahinterstehen, die die ganze Herde in den Abgrund treiben wollen, ist das ja auch ganz in Ordnung. Aber kann man sicher sein? Wie kann man sich versichern?
Hier kommt das ins Spiel, was den Büffeln fehlt, uns aber im Prinzip zur Verfügung steht: Denken, genauer gesagt, das Reflexionsvermögen. Wir können uns nämlich immer überlegen: Ist das wirklich richtig? Ist das, was hier gesagt wird, sinnvoll? Wem nützt, was hier geschieht? Wer hat ein Interesse daran, dass die Ereignisse sich so entwickeln? Und wir können dann eben stehen bleiben, bevor wir in den Abgrund rasen. Wir können uns umschauen und dann vielleicht, falls es sie gibt, die paar „Indianer“ entdecken, die Panik säen.
Denken, Reflexion und mehr
Antje Maly-Samiralow, eine Fernsehjournalistin der Medizinredaktion des Bayrischen Rundfunks, hat mich in einem neuen Format, „Frau Antjes Salon“, eingeladen, zusammen mit dem Jugendforscher Prof. Bernhard Heinzlmaier zum Thema „Was ist Denken?“ bei einer Gesprächsrunde dabei zu sein. Eine kleine Kostprobe. Die volle Version ist auf Langemanns Internetfernsehkanal hinter einer Bezahlschranke zu sehen.
Denken in Kategorien und Political Correctness
Wenn wir „Denken“ sagen, meinen wir meistens verschiedene, teilweise grundverschiedene Dinge. Eine Grundvoraussetzung und eigentlich die einfachste Art des Denkens ist das Kategorisieren, das Zuordnen von Einzeldingen zu Oberbegriffen oder Kategorien. Das können auch Büffel. Sie unterscheiden zwischen Essbarem und Nicht-Essbarem, zwischen Dingen und Lebewesen, die irrelevant und ungefährlich sind – Präriehunde und Bäume etwa – und gefährlichen – Wölfe, Menschen, Kojoten, etc. Höhere Tiere können schon ziemlich gut kategorisieren, manche Vögel und Primaten etwa, und Kinder lernen das im Kindergarten, oder einfach nebenbei. Wenn man es einmal gelernt hat, funktioniert diese Art des Denkens sehr schnell, sogar unbewusst und automatisch.
Dieses Kategorisieren, diese einfachste Denkform, liegt auch der „Political Correctness“ zugrunde: Da wird ein Mensch, eine Äußerung, ein Video, eine komplexe Handlung, ein Buch, das man entweder kaufen will oder nicht, in eine Kategorie eingeordnet. Das Buch ist dann „interessant“, „in“, „muss ich haben“, oder „altbacken“, „langweilig“, „zu dick“, „zu links“ oder „zu rechts“. Dieses Vorgehen erleichtert uns das Leben: Es verkürzt ausführliche Überlegungen auf eine einfache ja/nein, gut/schlecht Entscheidung. Daher ist es ja auch sehr beliebt. Aber es kann – siehe Büffel – auch auf Abwege führen. Nämlich dann, wenn die Kategorien, die vorgegeben sind, nicht klar sind, oder wenn die Zuordnung manipulativ erfolgt. Wenn etwa auf dem Buchdeckel draufsteht „Das spannendste Buch dieser Saison, sagt die FAZ“ und wir denken, „muss stimmen“ und es kaufen. Beim Lesen merken wir dann: Auch die FAZ täuscht sich manchmal. Oder am Ende gar: die FAZ wurde dafür bezahlt, das zu schreiben? Pfui! Politisch unkorrekt!
Regelgeleitetes Denken
Manche sagen, Computer können „denken“. Damit meinen wir eine Form des regelgeleiteten, algorithmischen, also im Grunde programmierbaren Abarbeitens von Aufgaben. Diese Art des kognitiven Vorgehens hält sich an bestimmte Regeln, die beispielsweise in der Logik definiert sind, oder in der Grammatik, oder durch Spielregeln, wie beim Schach. Wenn wir ein Sudoku lösen, wenden wir diese Form des Denkens an: „Wenn ich hier eine Zwei hinsetze, müsste da eine Drei hin. Da dann aber in dieser Reihe zweimal die Drei stünde, kann das nicht sein, also muss ich dort eher eine Fünf als eine Zwei hinsetzen.“ Dieses algorithmische, regelhafte und damit programmierbare Abarbeiten von Aufgaben können Computer in der Tat mittlerweile sehr gut, besser als Menschen oft. Computer haben Schachweltmeister und inzwischen sogar Go-Meister geschlagen.
Reflexion und Grundlagenkritik
Was ich oben mit „Reflexion“ bezeichnet habe, ist eine andere Form des Denkens. Sie wendet nicht einfach Regeln auf ein Problem an, sondern sie fragt nach den Grundlagen und Voraussetzungen, oder nach den Regeln von Denk- und Handlungsprozessen. Das ist das, was Computer noch nicht so gut können und Büffel überhaupt nicht, wir Menschen im Prinzip aber schon, wenn wir es gelernt haben und uns etwas Mühe geben.
Reflexion ist nämlich anstrengend. Sie verlangt, dass wir einen anderen Regelsatz zugrunde legen, als den gewohnten, und sie erfordert, dass wir den Dingen auf den Grund gehen. Beides kostet Zeit und verlangt viel Aufmerksamkeit. Da die Kapazität des Bewusstseins begrenzt ist, können wir in dieser Zeit nichts anderes tun, und diese Form des Denkens geht, anders als Kategorisieren und einfache Arten des regelgeleiteten Denkens, nicht automatisch.
Wenn wir beispielsweise reflektieren, dann würden wir uns fragen: Wie kommt es, dass ein so schlechtes und langweiliges Buch von einer Qualitätszeitung wie der FAZ als „spannendstes Buch der Saison“ angepriesen wird? Reflexion beginnt also mit Fragen. Mit Fragen nach den anscheinenden Selbstverständlichkeiten oder das, was alle für selbstverständlich halten. Wenn wir dieser Frage nachgehen, dann merken wir, dass es mehrere Weisen gibt, sie zu beantworten: Die FAZ hat recht und ich verstehe nichts von Literatur. Das könnte und müsste ich prüfen. Ich müsste vielleicht noch einige andere Leute fragen. Ich könnte das Buch meinem besten Freund schenken und ihn um seine Meinung bitten. Ich könnte über Bedingungen der medialen Funktionsweisen nachdenken. Müsste mich dazu vielleicht auch kundig machen: Wie funktioniert denn eigentlich Aufmerksamkeitssteuerung bei der Presse? Wir merken: Ich müsste mich tiefergehend informieren. Reflexion stößt uns auf das, was wir nicht wissen und regt uns daher an, darüber nachzudenken und, wo das nicht ausreicht, weitere Information heranzuholen.
Ja, und jetzt lauert um die Ecke wieder die Political Correctness Falle: wenn ich nämlich faul bin, oder zu wenig Zeit habe, oder mich sowieso nicht so genau informieren will, dann kann ich ja rasch mal auf Twitter, Facebook oder Wikipedia nachsehen, was dort so über das Buch steht, das erspart mir die Mühe, mich selbst kundig zu machen… und schon komme ich am Ende darauf: Na ja, ich versteh halt wirklich nichts von Literatur; die FAZ, Wikipedia und Co. werden schon recht haben.
Reflexion ist im Grunde nicht abgeschlossen und nicht abschließbar. Denn es können immer wieder neue Informationen auftauchen, die meine alte Sicherheit über den Haufen werfen. Ich kann neue Argumente hören, die das widerlegen, was ich bislang geglaubt habe. Reflexion ist das, was wissenschaftliches Vorgehen auszeichnet: Nachsinnen über die Grundlagen und über Voraussetzungen. Unbequem, oft verstörend, zeitaufwändig. Daher unpopulär.
Aber Reflexion hat eine sehr wichtige konstruktive Funktion: Sie hinterfragt nämlich die Voraussetzungen, die andere machen, wenn sie irgendwelche Behauptungen aufstellen oder Handlungsvorschläge machen.
Kleine Reflexionsübung:
Es ist mittlerweile ziemlich modern geworden zu sagen: Lasst uns Meditation und Achtsamkeit üben. Das hilft nämlich dabei, den immer wachsenden Stress zu bewältigen und dann sind wir nicht so ausgebrannt und können besser schlafen und das Leben besser genießen.
Das ist auch nicht falsch. Ich habe mit meiner Arbeitsgruppe in den 2000ern dazu beigetragen, dass sich diese Haltung verbreitet hat, als wir z.B. die erste Meta-Analyse zu Achtsamkeit und Gesundheit publizierten [3] und einen Achtsamkeitsfragebogen entwickelten [4, 5].
Viele Kritiker haben – aus meiner Sicht völlig zu Recht – mittlerweile darauf hingewiesen, dass diese Botschaft die Gefahr in sich birgt, die strukturellen Quellen von Stress am Arbeitsplatz zu übersehen: zu hohe Taktung, zu wenig Personal, zu starker Druck Überstunden zu machen, etc.
Reflexion über die Voraussetzungen, die die Achtsamkeits- und Meditationsbewegung macht, führt uns dazu zu verstehen, dass der Ansatz beim Individuum alleine manchmal nicht ausreicht. Das hat beispielsweise Hartmut Rosa in einem famosen Vortrag auf dem Kongress „Meditation und Wissenschaft“ am 2.4.2022 in Berlin gezeigt, wo er einen neuen Stil einforderte, mit der Welt, den Dingen und uns selber umzugehen.
Auf solche Ideen kommt man nur durch Reflexion, also durch systematisches Nachdenken über Grundlagen. Der Weg dorthin führt über Fragen, und zwar über Fragen nach dem scheinbar Selbstverständlichen. Wenn die Büffel denken könnten, hätten sie sich zum Beispiel die Frage stellen können – es hätte sogar gereicht, wenn nur der Leitbüffel das getan hätte: Warum stehen da Zäune? Wohin führt dieser Weg? Das hätte ihnen den Weg in den Abgrund erspart. Aber Büffel können eben nur sehr begrenzt denken.
Wir können das besser. Aber mir scheint, wir können es immer weniger. Denn um es zu tun, benötigt man erstens die Motivation. Wollen wir wirklich bis auf die Grundlagen vordringen? Was finden wir da? Möglicherweise etwas Unschönes? Also lieber nicht zu viel fragen!
Man benötigt zweitens Zeit, denn Reflexion ist langsam. Wir müssen uns oft Informationen holen und diese verarbeiten. Und benötigen dann einen freien Raum, wo „nichts“ ist, außer eben Denken.
Und man benötigt drittens etwas Schulung und Übung. Ich sehe zum Beispiel in den letzten Jahren beim Kommentieren von Studentenessays, dass die Zahl derer, die Fragen auf den Grund gehen, weniger wird. Die meisten können brav entlang eines vorgegebenen Schemas Informationen einholen und deskriptiv beschreibend wiedergeben, was A gesagt hat, was B meint, und dass C was anderes sagt. Aber der Sache auf den Grund gehen: Warum sagt C was anderes als A und B und welche Voraussetzungen machen A und B? Sind diese Voraussetzungen sinnvoll und richtig? Solche tiefergehenden Schürfungen nehmen nur die wenigsten vor.
Ich gehe davon aus, das hat mit unserer Schule zu tun. Dort scheinen Kinder immer weniger zu lernen, Dinge zu hinterfragen. Das, was kleine Kinder noch tun: Opa, warum ist der Himmel blau? Warum macht die Kuh muh und das Schaf mäh? Warum frisst die Ziege Gras und der Hund nicht? Warum ist der Nachbar immer so grimmig? Das offensichtliche Hinterfragen, das wird ihnen oft in der Schule ausgetrieben und auch später. Wie sagte Wieler vom RKI neulich: „Die Maßnahmen dürfen nie hinterfragt werden!“ Das ist die politische Durchgabe: Gehorchen und keine Fragen stellen.
Schlechte Schule, schlechte Politik, fragwürdige Gesundheitspolitik. Frag-würdig, im wahrsten Sinne des Wortes. Das heben wir uns für einen anderen Blog auf.
Einsicht und „Scharfsicht“
Einsicht
Zusätzlich zum Denken in Kategorien, Algorithmen und Reflexion gibt es noch tiefer reichende Formen des Denkens. Das sind eigentlich die, für die die griechischen Philosophen den Begriff „Denken“ reserviert hatten, nämlich Einsicht und Scharfsicht, noesis und anchinoia.
Die Einsicht ist eine Form des Denkens, bei der wir Zusammenhänge und Grundstrukturen erkennen. Die meisten kennen den Pythagoräischen Lehrsatz: a2 + b2 = c2. Wenn wir ihn aber nun endlich verstehen, dass in einem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der zwei Seiten, die den rechten Winkel einschließen, dem Quadrat der Hypothenuse oder der gegenüberliegenden Seite gleich ist, dann haben wir eine Einsicht. Nämlich in den geometrischen Zusammenhang. Der Zusammenhang ist bereits da und gegeben. Wir kannten wir ihn vorher zwar und wussten um ihn, aber wir verstanden ihn nicht. Jetzt verstehen wir ihn und haben daher eine Einsicht.
Eine Einsicht ist also das intellektuelle Erfassen einer Struktur. Oder wenn wir verstehen, dass der Motor kapitalistischer Wirtschaft das Streben nach Profit ist, dann haben wir eine Einsicht gewonnen. Solche Einsichten sind oft abstrakt, weil es sich eben um allgemeine Strukturen handelt.
In der Physik nehmen sie die Form von hochabstrakten und mathematisch formulierten Theorien an. Sie stammen aus einer tiefen Einsicht in die Grundstruktur, in diesem Fall in die Grundstruktur des Universums.
Ich habe immer mal wieder darauf hingewiesen, dass eine spirituelle Erleuchtungserfahrung phänomenologisch sehr viel Ähnlichkeit mit einer solchen wissenschaftlichen Einsicht hat [6, 7].
Solche Einsichten in Grundstrukturen können auch unser eigenes Leben betreffen. Dann nennen wir es Sinnerfahrung. Wir beginnen zu verstehen, wie Dinge zusammenhängen und vielleicht auch, warum sie geschehen sind. Manche würden sagen, wir konstruieren diese Zusammenhänge eher, als dass wir eine Einsicht haben. Das hängt wiederum von Voraussetzungen ab, die wir machen: ob wir denken, unser Leben habe eine Sinngestalt, die es zu entdecken gibt, oder ob wir denken, wir gestalten es einfach wie wir lustig sind. Und schon wieder merken wir: Grundlagenreflexion auch hier.
Einsicht richtet sich auf vorgegebene Strukturen, die wir erkennen, indem wir unsere intellektuelle Kraft und Aufmerksamkeit darauf richten, wie etwa, wenn wir den pythagoreischen Lehrsatz plötzlich verstehen.
Scharfsicht
Aristoteles kennt in seiner wissenschaftlichen Methodenlehre, dem Organon, noch eine andere Modalität und nennt sie „anchinoia“ – Scharfsicht. Die mittelalterlichen Übersetzer und Kommentatoren nannten das „sollertia“ [8]. In moderner Terminologie wäre das die Abduktion, also die Fähigkeit, sehr unterschiedliche empirische Gegebenheiten mithilfe einer hypothetischen Struktur zu verbinden. Das ist die Denkform, die Sherlock Holmes anwendet, wenn er eine bestimmte Form der Zigarre und andere scheinbare Belanglosigkeiten zusammennimmt, ein bisschen Geige spielt, vielleicht auch ein bisschen Kokain schnupft, und dann plötzlich eine Idee hat, wer der Übeltäter gewesen sein könnte [9].
Auch hier erkennen wir also eine „zugrundeliegende Struktur“, nämlich ein Modell oder eine Theorie, wie die vorgefundenen Ereignisse oder Sachverhalte zusammenpassen. Nur ist diese Art der Einsicht sehr vorläufig. Denn es könnte auch eine Reihe anderer möglicher Zusammenhänge geben, und welches der richtige Zusammenhang ist, das müssen wir dann durch andere Denk- und Erkenntnisformen, zum Beispiel durch das Sammeln von Erfahrungstatsachen, erst erhärten.
Abduktion oder Scharfsicht ist also eine Art Indizienprozess. Aufgrund sehr verschiedener Erfahrungselemente suchen wir nach einer sie verbindenden Theorie. „Facts in search of a theory“ hat Charles Sanders Peirce’s die Abduktion genannt [10, VII 218].
Das Kennzeichen von Abduktion ist, dass wir unser vorläufiges Modell immer wieder neu hinterfragen müssen. Dazu benötigen wir Reflexion, sowie Geduld, als auch den Willen, uns immer wieder neuen empirischen Tatsachen zu stellen. Das sind letztlich keine intellektuellen, sondern moralische Tugenden. Insofern ist gutes und sauberes Denken auch eine Frage der Moral.
Und das ist auch, wo Menschen und Computer sich grundlegend unterscheiden. Nicht nur sind Computer keine guten Abduktionsmaschinen. Abduktion ist nämlich ein eminent kreativer Akt, der etwas komplett Neues entwickelt. Computer sind kreativ innerhalb eines Rahmens. Sie können Schüttelreime und Geschichten ersinnen, wenn man ihnen einige Stichworte gibt. Aber mir wäre nicht bekannt, dass es bereits ein KI-System gäbe, das komplett Neues ersinnt. Das scheint immer noch menschliche Domäne zu sein.
Abduktion und Scharfsicht kann man, glaube ich, auch nur in Grenzen üben. Das ist vermutlich eine Begabung. Denn man benötigt dazu die Fähigkeit, sehr viele unterschiedliche, ja sich widersprechende Gegebenheiten im Arbeitsgedächtnis präsent zu halten. Man benötigt die psychologische Tugend, Widersprüche auszuhalten und die Fähigkeit, mit kognitiver Dissonanz umzugehen. Letztlich muss man dazu auch das Geschnattere der anderen Denkoperationen gering halten. Denn, neuropsychologisch gesprochen, muss hier unsere kreative Seite, die nicht sprachlich, sondern bildhaft operiert, zu Worte kommen. Und die kommt, wie Iain McGilchrist belegt hat, in unserer Kultur zu kurz [11]. Damit diese leise Stimme gehört werden kann, müssen wir die anderen Denkprozesse, vor allem das algorithmisch-konzeptuelle Abarbeiten, das sich auch oft als innerer Monolog oder als Gedankenlärm äußert, zur Ruhe legen und das kann nicht jeder. Das funktioniert nur durch
Nicht-Denken hinter dem Denken
Dazu müssen wir das Denken und den inneren Lärm der Gedanken zur Ruhe bringen. Das ist es, was spirituelle Meditationstraditionen und Mystiker im Sinn hatten. Der von mir übersetzte Hugo de Balma, ein Vorläufer und eine Quelle für Meister Eckhart, pflegte, sinngemäß, zu sagen: Wir müssen alle kognitiven Akte, alles Denken, alle Bilder, alles Wünschen und Wollen hinter uns lassen und uns mit dem Flügel oder Pfeil der Liebe nach oben ausrichten [12]. Das gelingt durch regelmäßige und getreuliche Übung der Meditation, indem wir uns auf den Atem konzentrieren. Dann geraten wir in jenen inneren Raum der Stille, in dem das Denken, der Lärm der inneren Dialoge und Monologe, schweigt. Dafür haben unterschiedliche Traditionen unterschiedliche Begriffe geprägt. Aber im Wesentlichen ist es ein Raum der gedankenfreien inneren Stille.
Wenn man dies länger übt, dann gelingt es einem auch in anderen Kontexten, wenn man mit Menschen zusammen ist, wenn man irgendetwas betrachtet oder hört, aus diesem inneren Raum der Stille heraus zu sehen, zu hören oder eben zu „denken“. Dann denken nicht wir, sondern dann steigen Gedanken auf, oder es denkt uns. Die Soto-Zen-Tradition nennt das „Big Mind“, den großen Geist. Dann kommen eben wirklich kreative und konstruktive Gedanken, das, was wir auf Deutsch sehr zutreffend „Ein-fälle“ nennen, oder „Ein-sichten“. Denn diese kommen gewissermaßen phänomenologisch gesprochen aus einem Jenseits des individuellen Geistes. Die alte mystische Tradition hätte gesagt: Sie kommen vom Hl. Geist, denn in dieser Spitze des Geistes, dort wo das Denken schweigt, dort berühren wir mit dieser Spitze den Heiligen Geist. Denn diese Spitze, so hat es der mittelalterliche Gelehrte Thomas Gallus ausgedrückt, ist „quae sola Deus unibilis – in ihr allein kann man sich mit Gott verbinden“ [13]. Dies ist aus meiner Sicht ein Bild dafür, dass wir in dieser inneren Stille in eine andere Dimension hineinreichen, genauer gesagt zu ihr geworden sind und aus ihr schöpfen.
Was uns dann in den Sinn kommt, das sind meistens wertvolle Gedanken. Das ist Denken hinter dem Denken, das aus dem Nicht-Denken kommt. Braucht ein bisschen Übung. Geht aber. Das würden wir gemeinsam sogar schaffen, wenn es mehr Leute machen würden und aufhören würden zu glauben, regelgeleitetes Denken sei die einzige und höchste Art des Denkens. Ist sie nicht. Viel Spaß beim Nicht-Denken.
Quellen und Literatur
- Ballantine B & Ballantine I eds (2001) The Native Americans. An Illustrated History (World Publications, North Dighton, MA).
- Britten TA (2011) The Lipan Apaches: People of Wind and Lightening (University of New Mexico Press, Albuquerque).
- Grossman P, Schmidt S, Niemann L, & Walach H (2004) Mindfulness based stress reduction and health: A meta-analysis. Journal of Psychosomatic Research 37:35-43.
- Walach H, Buchheld N, Buttenmüller V, Kleinknecht N, & Schmidt S (2006) Measuring mindfulness – The Freiburg Mindfulness Inventory (FMI). Personality and Individual Differences 40:1543-1555.
- Buchheld N & Walach H (2002) Achtsamkeit in Vipassana-Meditation und Psychotherapie. Die Entwicklung des „Freiburger Fragebogens zur Achtsamkeit“. Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie 50:153-172.
- Walach H (2015 (orig. 2011)) Spiritualität: Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen (Drachen Verlag, Klein Jasedow).
- Walach H (2021) Brücken zwischen Psychotherapie und Spiritualität [Bridges Between Psychotherapy and Sprituality] (Schattauer, Stuttgart).
- Grosseteste R (1981) Commentarius in posteriorum analyticorum libros (Leo S. Olschki, Florenz).
- Sebeok TA (1985) One, Two, Three … Spells UBERTY (Anstelle einer Einleitung). Der Zirkel oder im Zeichen der Drei: Dupin, Holmes, Peirce. Supplemente Bd. 1, eds Eco U & Sebeok TA (Fink, München), pp 15-27.
- Peirce CS (1931) Collected Papers. Ed. Ch. Hartshorne & P. Weiss: Bd. 1-6; Ed. A. Burks: Bd. 7-8 (Harvard University Press, Cambridge).
- McGilchrist I (2009) The Master and His Emissary: The Divided Brain and the Making of the Western World (Yale University Press, New Haven).
- Hugo de Balma (2017) Die Wege nach Sion trauern: Viae Sion lugent, auch überliefert unter dem Titel „Mystische Theologie“. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Harald Walach (Vier Türme Verlag, Münsterschwarzach).
- Gallus T (1934) Explanatio in mysticam theologiam. Grand Commentaire sur la theologie mystique. Ed. G. Théry (Editions historiques et philosophiques R. Haloua, Paris).