Was denken deutsche Immunologen über SARS-CoV2?

Unsere Umfrage unter Immunologen ist publiziert; sie enthält auch einen „Orthodoxie-Score“, eine Skala zur Messung der Haltung gegenüber der Covid-19-Krise

Der Schweizer Immunologe Beda Stadler, emeritierter Berner Professor, hat schon vor geraumer Zeit bedauert, sich nicht rechtzeitig in der Covid-19-Krise zu Wort gemeldet zu haben und die öffentliche Arena den Virologen überlassen zu haben [1]. In der Tat, Immunologen waren relativ selten in der Öffentlichkeit zu hören. Diese Situation war für mich der Anlass, die deutschsprachigen Immunologen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu diesem Thema zu befragen. Denn während die Virologen auf das Pathogen, das Virus, den Angreifer blicken, haben Immunologen meistens das Immunsystem, den Wirt, die Abwehr im Blick. Welche Meinungen also vertreten deutschsprachige Immunologen? Die Arbeit wurde vor Kurzem in einer neuen peer-reviewten Online-Zeitschrift, „Cureus“, publiziert [2].

Das wichtigste Ergebnis: Die Mehrheit der Immunologen, 53 %, sagen, dass das Immunsystem bei dieser Erkrankung wichtiger sei als das Virus.

Mein Coautor Raffaele Hellweg hat sich die Mühe gemacht, von den Webseiten der Unikliniken und Universitätsinstituten die E-Mail-Adressen akademisch tätiger Immunologen herauszusuchen, 1025 an der Zahl. Diese haben wir in drei Umfrage-Wellen mit einem Online-Befragungssystem, Social Science Survey, angeschrieben und um Auskunft gebeten. Die Ernte war mager, aber immerhin 91 verwertbare Datensätze haben uns erreicht. Die detaillierten Ergebnisse kann man auf der Webseite des Journals in unserer Publikation genauer sehen. Ein gutes Drittel der Antwortenden waren Professoren, die restlichen waren promovierte oder habilitierte Forscher. Mehr als die Hälfte hatte mehr als 20 Jahre Forschungserfahrung. Mehr als die Hälfte hatte mehr als 100 Originalarbeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert. Das mittlere Alter der Antwortenden war knapp 48 Jahre.

Wir fragten nach der Infection-Fatality-Rate (IFR), also dem Verhältnis derer, die infiziert sind und derer, die an der Infektion sterben, im Vergleich zur saisonalen Grippe, nach der Infektivität und nach der Herausforderung fürs Gesundheitssystem. Eine Minderheit von 14% stufte die IFR gleich ein wie bei der Grippe, eine Person gar als niedriger. 30 % stuften die Infektivität gleich oder niedriger als die der Grippe ein, und die Mehrheit war der Meinung, die Herausforderung für das Gesundheitssystem sei bei SARS-CoV2 größer.

Die Mehrheit, knapp 53 %, sagen, das Immunsystem sei bei dieser Infektion wichtiger als das Virus. 37 % glauben, das Virus sie die größte Gefahr, 21 % halten die politischen Maßnahmen zur Eindämmung für gefährlicher und 32 % halten Verschwörungstheorien für die größte Gefahr. Das hat selbst mich erstaunt, dass mehr als die Hälfte der Immunologen andere Faktoren als das Virus für bedeutsamer halten.

59 % unterstützen die derzeitige Politik, Impfungen im Schnellverfahren zu entwickeln, 30 % sehen diese Entwicklung eher skeptisch und 10 % haben dazu keine Meinung bzw. diese nicht geäußert.

Die überwiegende Mehrzahl, 77 %, informiert sich über Fernsehen und öffentliche Kanäle, mehr als ein Viertel liest Printmedien. Aber immerhin mehr als ein Drittel nutzt auch alternative Medien im Internet. Es ist tröstlich zu wissen, dass immerhin 85 % sich über wissenschaftliche Literatur informieren und 61 % eigene Analysen von Zahlen vornehmen. Wie bei allen Medizinern und Akademikern spielt für drei Viertel der Austausch mit Kollegen eine wichtige Rolle.

„Orthodoxie-Skala“

Histogramm der Summenwerte des „Covid-19 Orthodoxie-Scores“ von 91 deutschen Immunologen

Ich habe nun aus den Einstellungsitems eine „Orthodoxie-Skala“ konstruiert. Psychologen basteln eben gerne Skalen und ich habe schon einige davon gemacht. Am bekanntesten und erfolgreichsten war der Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit, den Nina Buchheld-Rose in einer Diplomarbeit konstruiert hat, die ich betreut habe. (Der Achtsamkeits-Fragebogen und Literatur dazu sind hier zu haben.) Dieser Fragebogen wird viel verwendet und wurde in viele Sprachen übersetzt [3]. Die „Covid-19-Orthodoxie-Skala – COS“, wie man sie nennen könnte, besteht aus den Items

  • „Die Infection-Fatality-Rate ist….. niedriger, gleich, höher, wesentlich höher…. als bei saisonaler Grippe“ (4 stufig)
  • „Die Infektivität ist …. niedriger, gleich, höher, wesentlich höher …. als bei saisonaler Grippe“ (4 stufig)
  • „Die Belastung des Gesundheitssytems ist ….. niedriger, gleich, höher, wesentlich höher …. als bei saisonaler Grippe“ (4 stufig)
  • „Das Virus ist bedeutsamer als das Immunsystem“ (2 stufig)
  • „Die größere Gefahr geht vom Virus aus im Vergleich zu den politischen Maßnahmen“ (2-stufig)
  • „Impfung ist notwendig“ (2-stufig)
  • „Beschleunigte Entwicklung von Impfstoffen ist richtig“ (2-stufig)

Die ersten drei Items sind von 1-4 skaliert, die letzten vier von 0-1. Das ergibt eine Skala, bei der der niedrigste Wert „3“ ist bei einer Person, die maximal von der Mainstream-Meinung abweicht und 16 bei einer Person, die die Mainstream-Meinung maximal unterschreibt 1. Diese kleine Skala hat ganz gute psychometrische Eigenschaften, ist normalverteilt (siehe Abbildung in der Originalpublikation) und hat eine passable Reliabilität, also Zuverlässigkeit der Messung, von Cronbach’s alpha = .74 2.

Wer eine Meinung zu SARS-CoV2 hat, die nahe bei dem Mainstream-Narrativ liegt – diese Definition ist sozusagen offenkundig, weil das das allgemein verbreitete Narrativ ist –, der würde also eher der Meinung sein, die Infection Fatality Rate von SARS-CoV2 ist sehr viel höher als bei der Grippe; die Infektivität ist sehr viel höher als bei der Grippe; die Belastung des Gesundheitssystems ist sehr viel höher; das Virus ist bedeutsamer als das Immunsystem; die Gefahr, die das Virus darstellt, ist größer als die Gefahr, die von den nicht-pharmakologischen Maßnahmen ausgeht; die Impfung ist notwendig, und es ist gut, dass sie beschleunigt vorangetrieben wird. Wer alle diese Items maximal bejaht, hat den maximalen Punktwert; wer bei der einen oder anderen Frage vorsichtiger urteilt, hat einen entsprechend niedrigen Punktwert; und wer überall gegenteilig urteilt, hat den niedrigsten Punktwert von 3. Die Skala steht nun allen, die zu dieser Frage forschen wollen und „orthodoxe Haltung zu SARS-CoV2“ operationalisieren wollen, zur Verfügung. Ich helfe gerne bei der Umsetzung und werde demnächst eine verwertbare Version auf meiner Institutsseite https://chs-institute.org/ zur Verfügung stellen.

Wer hat eher eine orthodoxe Meinung?

Ich habe dann in einem letzten Schritt versucht herauszufinden, wodurch die Höhe dieses „Orthodoxie-Wertes“ bestimmt wird, also welche Leute tendenziell eher eine Meinung haben, die dem Mainstream-Narrativ nahekommt. Das kann man mithilfe einer Regressionsanalyse tun. Eine solche Analyse setzt voraus, dass man die Variable, deren Schwankungsbreite man vorhersagen will, in dem Fall die des Orthodoxie-Scores, normal verteilt ist, was der Fall ist (siehe Histogramm in der Originalpublikation). Dann kann man durch ein iteratives Näherungsverfahren, das heutzutage der Computer übernimmt, das Ausmaß bestimmen, in dem einzelne andere Variablen dazu beitragen, diese Schwankung zu erklären. Diese anderen Variablen sind die sogenannten Prädiktoren. In unserem Falle waren es die Statusvariablen, also Alter, Geschlecht, Anzahl der Publikationen, Status im akademischen System, Forschungserfahrung und die hauptsächlichen Informationsquellen (TV, Rundfunk, Zeitungen – ja, nein; wissenschaftliche Literatur – ja, nein; eigene Analysen von Daten – ja, nein; Austausch mit Kollegen – ja, nein) 3.

Das Ergebnis ist ebenfalls in der Originalpublikation als Tabelle 4 zu sehen. Wir können mit einer sparsamen Regressionsgleichung 13 % der Schwankung aufklären, und diese Regressionsgleichung ist signifikant. 13 % Varianzerklärung ist nicht riesig, aber für sozialwissenschaftliche Fragestellungen durchaus ordentlich. Interessant ist, welche signifikanten Prädiktoren sich ergeben: Eine Person steht der orthodoxen Meinung näher, wenn sie sich vor allem über öffentliche Kanäle informiert, wenn sie mehr publiziert, aber einen geringeren Status hat (also z.B. noch kein Professor ist, sondern erst habilitiert oder Postdoc) und keine eigenen Datenanalysen als Informationsquelle heranzieht.

Das finde ich ein sehr interessantes Ergebnis. Wie lässt es sich verstehen? Ich habe vor allem zwei Interpretationen für dieses Ergebnis. Zum einen dürften jüngere Leute, die noch tiefer in der akademischen Hierarchie stehen, sich tendenziell eher sozialem Druck beugen und der Mehrheitsmeinung folgen. Zum anderen dürften jüngere Leute, die vorankommen wollen und bereits gut publiziert haben, aber noch nicht den erhofften Status einer Professur erreicht haben, tendenziell eher ihre eigenen Forschungsprojekte verfolgen und sich weniger um die Problematik von SARS-CoV2 kümmern. Daher informieren sie sich hier aus zweiter Hand, also durch öffentliche Kanäle. Diese transportieren natürlich vor allem die Mainstream-Meinung.

Umgekehrt könnte man sagen: Wer sich durch eigene Analysen ein Bild macht und auch nichts zu verlieren hat, weil er oder sie schon alles erreicht hat, leistet sich offenbar eher den Luxus einer abweichenden Meinung. Ob er oder sie diese dann auch äußert, ist nochmals ein ganz anderer Punkt, der in dieser Umfrage keine Rolle spielte. Vor Kurzem führte ich ein Interview mit einem gut vernetzten Medienspezialisten. Der meinte, vor allem solche Menschen, die „es sich leisten können“, hätten seiner Erfahrung nach in dieser Krise eine abweichende Meinung. Das finde ich eine treffende Beobachtung. Sie wird durch meine Daten gestützt. Jetzt wissen Sie auch, warum ich dem Mainstream-Narrativ gegenüber skeptisch bin: Ich kann es mir leisten, denn ich habe nichts zu verlieren. Und ich informiere mich vor allem durch wissenschaftliche Literatur und eigene Datenanalysen. Wer das nicht tut, ist in Gefahr indoktriniert zu werden. Das zeigt diese Umfrage ziemlich klar 4.

Ich danke allen Immunologen, die sich Zeit genommen haben, diesen kurzen Fragebogen auszufüllen und ein klein wenig zur Klärung beigetragen haben.

Quellen und Literatur

  1. Stadler BM. Coronavirus: Warum alle falsch lagen. Die Weltwoche. 2020.
  2. Walach H, Ruof V, Hellweg R. German Immunologists‘ Opinion on SARS-CoV2 – Results of an Online Survey. Cureus. 2021:e19393. doi: https://doi.org/10.7759/cureus.
  3. Walach H, Buchheld N, Buttenmüller V, Kleinknecht N, Schmidt S. Measuring mindfulness – The Freiburg Mindfulness Inventory (FMI). Personality and Individual Differences. 2006;40:1543-55.

Fußnoten

  1. In der Originalpublikation habe ich eines der zweistufigen Items der Einfachheit halber mit 1-2 kodiert, wodurch der Range der Skala von 4 bis 17 reicht; außerdem ist mir beim Lesen des Originalartikels aufgefallen, dass dort ein Druckfehler ist, denn der theoretische Range ist bei dieser Skala 4-17 (und nicht 4-18). Diese kleine Änderung ist aber numerisch irrelevant und ändert nichts an der Eigenschaft der Skala.
  2. Cronbach’s alpha ist ein mittlerer Korrelationskoeffizient aller Items mit der Skala. Er kann maximal 1 sein, was er aber nie ist. In sehr guten Skalen liegt er zwischen .80 und .90, selten darüber. Man geht davon aus, dass eine Skala, deren Reliabilität über .70 liegt, ordentlich und zuverlässig misst. Die „Reliabilität“ ist die Zuverlässigkeit, mit der eine Skala misst, was auch immer sie misst. Was es ist, das sie misst, ist das interessierende Konstrukt, in diesem Fall die „Mainstream-Haltung zu Covid-19“ oder die „Nähe zum Mainstream-Narrativ von Covid-19“. Die Tatsache, dass eine Skala auch wirklich das abbildet oder misst, was sie vorgibt zu messen, nennt man ihre Validität. Anders als die Reliabilität kann man diese nicht direkt berechnen, sondern nur indirekt bestimmen. In unserem Fall würde ich sagen, dass die Items, die ich ausgewählt habe, eine klare Augenscheinvalidität haben. Denn sie bilden diejenigen Elemente ab, die das Mainstream-Narrativ auszeichnen.
  3. Für die Spezialisten: Mit einem Datensatz von 91 Fällen hat die Analyse eine statistische Mächtigkeit, um etwa 7 bis maximal 9 Variablen stabil in einer Regressionsgleichung zu errechnen. Ich habe immer mit kleinen Variableneinheiten gearbeitet, um den Zufall nicht zu kapitalisieren und bin so auf die hier dargestellte Analyse gekommen. Es ist also keine große Datenfischerei hinter dem Ergebnis. Ich stelle meine Daten gerne auf Anfrage zur Verfügung, dann kann jeder die Daten selber nachrechnen. Faktenchecker bekommen die Daten dann, wenn Sie mir plausibel machen können, dass sie über ausreichend Kenntnisse (akademischer Grad in einem relevanten Fach) verfügen. „Pferdesportreporter“ reicht also nicht.
  4. Es ist natürlich auch wichtig, auf die Schwächen dieser Arbeit einzugehen. Das habe ich in der Diskussion der Originalpublikation getan. Das Hauptproblem ist offensichtlich: Wir haben nur einen kleinen Teil aller möglichen Zielpersonen erreicht. Das ist das Leidwesen aller Umfragen, die als „cold-call“ Umfrage bei Akademikern landen. Denn diese erhalten viele solcher Anfragen. Die Frage, die interessiert, ist: Kann man auf die Grundgesamtheit aller Immunologen rückschließen? Das wissen wir nicht. Ich habe in der Publikation argumentiert und das mit einer Reihe von Literaturzitaten belegt, dass dort, wo es untersucht wurde – eine dieser Untersuchungen haben wir selber gemacht – sich immer herausstellt, dass die Antwortenden in der Regel für diejenigen repräsentativ sind, die es angeht, also nicht mit einer großen Verzerrung zu rechnen ist. Das Dumme ist, dass wir es nie wissen. Aber offenbar hat meine Argumentation die Reviewer und den Editor überzeugt, sonst hätten sie die Arbeit nicht publiziert. Und wieder für den Herrn Pferdesportreporter-Faktenchecker der ARD: Die Publikation war nicht erkauft. Das Journal ist ein Platin-Open-Access Journal, also eines, bei dem man nichts bezahlen muss, wenn man publiziert und wenn die Arbeit angenommen wird, weil es ein Community-Projekt ist und kein kommerzielles Journal. Ganz stimmt es nicht: Ich habe 325 US-Dollar bezahlt, weil ich die „preferred editing services“ in Anspruch genommen habe, weil ich irgendwie zu dumm war, um mit der Online-Plattform klarzukommen. Ich hätte auch noch was dafür bezahlen können, um rascher in den Index Medicus zu kommen, aber das habe ich mir dann doch verkniffen.